Michael de Maizière, 1948 in Nordhausen (Thüringen) geboren, absolvierte nach einer Lehre als Geigenbauer 1968 ein Abendstudium an der Hochschule für BildendeKunst Berlin Weißensee. Nach seinem Studium an der Fachschule für Werbung und Grafik in Berlin Schöneweide und einer kurzen Anstellung bei den Staatlichen Museen zu Berlin, arbeitete er seit 1976 freiberuflich als Grafiker und lllustrator. Illustrationen zu Kinder- und Jugendbüchern, Layouts zu zahlreichen Kunstkatalogen der Staatlichen Museen, Filmplakate für den Progress Filmverleih der DDR, u. a. zu Kassenschlagern wie „12 Uhr mittags“, Am Goldenen See“ oder „Es war einmal in Amerika“ prägte er als Grafikdesigner. Auch er lehrte seit 1986 an der Humboldt-Universität Berlin und vermittelte sein Wissen im Bereich der angewandten Grafik an künftige Kunstpädagogen. Als er nach der Wende – wie die meisten Künstler in Ostdeutschland – vor einem Neubeginn stand, widmete er sich vor allem derGestaltung von Katalogen und Büchem zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler. Inzwischen ist das Grafikatelier de Maizière ein Gütesiegel in dieser Branche. Rund 200 Katalog- und Buchtitel, häufig begleitet von Einladungen, Faltblättern und Plakaten, füllen das Regal mit den Belegexemplaren seiner Arbeit als Grafiker.
Was dem Grafiker de Maizière dann seit 1993 zunächst als Ausgleich zur vorwiegend am Schreibtisch stattfindenden Arbeit gedacht war, hat sich im Laufe der Jahre zu einem zweiten Strang professioneller künstlerischer Arbeit entwickelt, wovon Sie sich in der Ausstellung nun überzeugen können. Erstes Interesse an der Bildhauerei war bei ihm bereits durch den Besuch einer Barlach-Ausstellung entfacht, als er 14 Jahre alt war. Später, durch wiederholte Begegnungen mit Skulpturen von Werner Stötzer (1931–2010) verstärkt, der vielen Bildhauern der nachwachsenden Generationen Anreger und Vorbild wurde. Seit nunmehr 25 Jahren widmet sich Michael de Maizière – neben der Arbeit als Gafikdesigner – der Bildhauerei und ausschließlich der Arbeit am Stein, der Königsdisziplin der Bildhauerkunst, die nur noch wenige Künstler praktizieren. Mit der Entscheidung für dieses archaischeMaterial, das selbst Zeugnis von Naturverwandlung ist, wählt er auch bewusst dessen Materialeigenschaften. Härte und Festigkeit der Steine fordern den Bildhauer körperlich heraus. Dem Besitzer der Skulpturen garantieren sie Langlebigkeit und Werthaltigkeit.
De Maizières Figuren sind vollplastisch ausgebildete Einzelfiguren, die man umschreiten kann. Es sind immer Frauen und Mädchen: Akte, Stehende, Liegende oder Torsi. Ihre Abmessungen sind durch das Format des Steins vorgegeben, das er optimal ausschöpft. Die Maße entsprechen aber auch dem vorhandenenKräftevermögen des Bildhauers, der ohne mechanisch-technische Hilfsgeräte den Stein bewegen will. Er verarbeitet Sandstein, vorwiegend in grau-weißer bis gelberFärbung aber auch rötlichen Sandstein aus den Vogesen; er nutzt Muschelkalk, dessen Oberfläche durch seine Einlagerungen eine auffällige Grobkörnung und Pigmentierung aufweisen, und er verwendet Marmor.
Die in dieser Ausstellung gezeigten Skulpturen entstanden in den vergangenen acht Jahren. Arbeiten vor dem Modell oder Zeichnungen im Vorfeld, bevor es an den Stein geht, finden bei ihm nicht statt. Aus der visuellen Zwiesprache mit dem Stein, seiner konkreten Ausdehnung und seiner Oberflächenbeschaffenheit entsteht die Idee. Mit Bleistift zeichnet er das Aufmaß auf dem Stein an, markiert quasi auf einer Fläche einen Anfang, von dem aus er von außen in die Tiefe arbeitet. Mit Werkzeugen, wie dem Meißel und anderen Handeisen, trägt er gezielt Schicht um Schicht ab. Dieser Prozess verdient im wahrsten Wortsinn den Begriff des Schöpferischen, denn in ihm muss jedes Teilvolumen, das ohne weitere zeichnerische Umrisse entsteht, zum vorangegangenen passen, und es gibt zugleich die Richtung für den neuen Schlag mit dem Werkzeug vor. Die Formen fließen ineinander, bilden Wölbungen und Vertiefungen. Sie werden entsprechend ihrer Funktion miteinander verbunden, um im Ganzen den schlüssigen Eindruck von einer menschlichen Figur zu vermitteln. Die Ergebnisse sind gebannte geschlossene Körpervolumina, die sich in den Raum ausdehnen, indem sie in unterschiedlichsten Bewegungsstadien und Positionen verharren. Mal überwiegt eine statisch ruhende Körperlichkeit, mal suggerieren Rhythmus und Fluss der Körpervolumina Bewegung im Raum. Immer stehen Natürlichkeit und elementar Sinnliches vor Augen.
Arbeiten wie
Sitzende, Versunken II oder Hiob zeigen, dass die Anatomie des menschlichen Körpers nicht Maßstab, sondern Bezugspunkt der Skulptur ist. Sie entfaltet sich in einem Wechsel aus Abbild und Interpretation. Später werden das Spiel von Licht und Schatten für variierende Wahrnehmungen der Skulptur sorgen und Zusätzliches für ihre räumliche Dimension leisten.
Charakteristisch für de Maizières Skulpturen ist die vergleichsweise sorgfältigeBearbeitung der äußeren Steinhaut. Sieht man zum Beispiel bei der Frau mit erhobenem Arm genau hin, erkennt man, dass ein hauchdünnes Tuch deren Unterkörper umfängt. Die beiden 120 cm hoch aufragenden weißen Marmorskulpturen weisen nicht nur besagte glatte Oberfläche auf, sie ruhen erkennbar auf kleinen Plinthen, die die ursprüngliche Breite und Tiefe des Steinblocks von nur 15 mal 15 cm verrät. Hier lässt der Künstler subtil die Maße des Steinquaders anklingen. Im aufrechten Sandstein-Torso, Hommage a Stötzer, lässt er noch größere unbearbeitete Partien des Steins stehen als zitiere er Stötzers Werkauffassung, in der die Urform und Beschaffenheit des Steinblocks eine immer größere Bedeutung in dessen Skulpturen erlangten.
Bei der Suche nach plastischen Formulierungen für die Vitalität des Lebens scheut Michael de Malzière auch nicht die Hinwendung zum genrehaft Anekdotischen. Gemeint sind jene Figuren, die besondere Stimmungen oder Posen einfangen und vom Künstler Titel erhielten wie: Versunken, Zufrieden, Wartende, Traum. Die Titel fügen der ablesbaren Körperhaltung, dem Habitus der Figur, ein narratives Moment hinzu, das das äußerlich Sichtbare um die Ebene der Befindlichkeit ergänzt. Unterstrichen wird dieser Augenblick durch präzise ausgearbeitete Gesichter. Hier agiert der Grafiker im Stein und liefert dem Betrachter den Plot für ganze Geschichten in seinem Kopf. Die Balance hält der Bildhauer, indem aber nicht das Gesicht, sondern der Körper der wichtigste Ausdrucksträger der Skulptur bleibt.
Michael de Maizières Entscheidung für die menschliche Figur knüpft an die Jahrhunderte alte Tradition der Kunst an, diese als universellen und unerschöpflichen Bedeutungsträger des menschlichen Lebens in immer neuen Ausdrucks- und Formensprachen zu erkunden. Wir kennen viele Beispiele in der Kunst, in der die menschliche Existenz vor allem als Drama dargestellt wird. Ein schreibender Zeitgenosse von Alberto Giacometti (1901–1966) charakterisierte dessen Plastiken einmal als „versteinerte Krisen der menschlichen Existenz“. Unabhängig davon, ob wir diese Ansicht teilen wollen, möchte ich mit Blick auf die Werke von Michael de Maizière behaupten, dass seine Skulpturen, sowohl sein strenger Stil, – die in klassischer Körpersprache aufgefassten Figuren und Torsi –, als auch seine heiter intendierten, in Stein gehauene Sinnenfreude und Lebenslust verkörpern. Sie sind lebensbejahend, sind Zeugnisse eines vitalen und prallen Lebens. Selbst der
Gestürzte Torso aus Sandstein steht – für mich – nicht in erster Linie für Leid, sondern plädiert für die Unversehrtheit und Würde des Menschen.

Dr. Bärbel Mann

Ausstellungsrede zur Ausstellung „Holm Heinke und Michael de Maizière“
im RWN ART Neubrandenburg 2018